
et. Wenn wir Menschen uns mit Einschränkungen, Herausforderungen und Limitationen konfrontieren, fragen wir uns oft, was im Leben zum Essentiellen gehört. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage bringt Menschen einerseits zur Reflexion über ihre existenziellen Grundbedürfnisse, wie man sie in einer Hierarchie organisiert und dann wiederum priorisiert. Andererseits ist es oft der Fall, dass Menschen durch die Einschränkungen, welche ihr Handeln zähmen, durchaus kreativer und innovativer werden. Dies bietet Individuen die Gelegenheit, ihr Potenzial stärker auszuschöpfen und Lösungen für sich und ihre Gesellschaft zu kreieren. Aus diesem Grund schaffen wir uns verschiedene Strategien, um unsere Einschränkungen zu bewältigen. Eine grosse Herausforderung welche uns, Menschen und Individuen, begegnete, war der Umgang mit unseren tiefsten Ängsten. Hier wäre interessant zu wissen, wie denn Philosophen und Denker mit ihren Ängsten umgegangen sind?
Dies ist auch im Werk “Der Begriff Angst” des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ein Thema, jedoch mit einem philosophischen Fokus. Kierkegaard interessierte sich für Fragen von existenzieller Bedeutung und dessen (psychologischen) Einfluss auf Individuen. Eine zentrale Frage ist dabei, inwiefern Freiheit ihre Geburt finden kann im Zusammenhang mit dem Verbot. Kierkegaard argumentierte, dass Individuen freier werden, wenn sie mit Geboten und Verboten konfrontiert werden. Kierkegaard führte dies zurück zu Adams Erbsünde. Adam, so Kierkegaard, ist in dem Moment freier geworden, als er sich an Gottes Verbot hielt und somit keine Äpfel vom Baum ass. Kierkegaard meinte, dass Verbote die Gelegenheit bieten, eine Wahl zu treffen. Der freie Wille als solches, ist stark verbunden mit der Idee des Individuums. Kierkegaard inspirierte spätere Denker, die sich auch für ähnliche Fragestellungen interessieren, obwohl er mit der christlichen Dogmatik eingeschränkt war. Nichtsdestotrotz war die Frage, inwiefern Individuen noch freier werden können, verbunden mit der Idee, für sie den bestmöglichen Raum, Ort und die bestmögliche Atmosphäre für sie zu schaffen. Dies war eine zentrale Frage in Platons Republik (gr. Politea). Platon berichtet in einem Dialog über seinen Lehrer Sokrates, welcher hypothetische Szenarien diskutierte und sich der Frage widmete, welche Stadt am besten geeignet ist für die besten Individuen.
In einer Erweiterung zur gleichen Diskussion, versuchte Abū Nasr al-Fārābī (gest. 951), ein Nachfolger Platons, dieser Frage ausführlicher nachzugehen in seinem Werk über Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der tugendhaften Stadt. Der muslimische Philosoph Fārābī, argumentierte in diesem Werk, dass Individuen, welche ein glückliches und ethisches Leben führen wollen, a priori auf eine tugendhafte Stadt angewiesen sind. Tugendhafte Individuen, so Fārābī, können nicht auf menschliche Interaktion, Gesetze, Austausch und Gruppen verzichten. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, kann er diese Tatsache zwingend nicht überwinden.
Fārābīs Vision über das ideale Individuum und die ideale Stadt schien jedoch für andere Denker die Wahrscheinlichkeit zu unterschätzen, dass eine ideale Stadt sich vielleicht nicht realisieren lässt. Angesichts dessen, stellten sich einige die Frage, wie Individuen mit so einer Möglichkeit der Nicht-Realisierbarkeit der idealen Stadt umgehen sollen. Darauf versuchte ein Nachfolger von al-Fārābī, der andalusische Philosoph Ibn Bāǧǧa (lat. Avempace, gest. 1138), systematisch in seiner Schrift “Die Leitung des Einsamen” (ar. Tadbīr al-Mutawaḥḥid) einzugehen. Ibn Bāǧǧa konnte zu seinen Lebenszeiten Zeuge werden, wie einige Städte zu Ruinen wurden. Für ihn war es daher klar, dass Städte als Raum der Bildung und Sozialisation für Individuen ab einem bestimmten Punkt nicht unbedingt vielversprechend sein müssen. Falls das Ziel von jedem Individuum das Erreichen von Glückseligkeit oder Erfüllung ist, dann sollte es sich der Gefahr bewusst sein, dass Städte manchmal nicht nur wenig zur Selbst-Erfüllung beitragen, sondern auch eine Gefahr darstellen könnten. Aus verschiedenen Gründen können sie auch das soziale Leben und den zwischenmenschlichen Austausch sowie das physische und geistige Leben von Individuen bedrohen. Selbstverständlich ist Ibn-Bāǧǧa ein Philosoph, seine Gründe sind idealistischer Natur. Jedoch beschloss er in das sogenannte Selbst-Exil hinzugehen, weil er selbst nicht mehr seine Stadt zum Ideal transformieren konnte. Stattdessen hatte er Anfeindungen auf sich gezogen, die ihm sein Leben kosteten. Dies sollte uns aber nicht verhindern, sein Plädoyer für eine freiwillige Vereinsamung mit offenen Augen zu betrachten. Er war nämlich nicht der Letzte, welcher dies tut.
Über diese schädliche Wirkung auf das ,,Geistesleben’’ schrieb auch der Deutsche Stadtsoziologe Georg Simmel mehrere hundert Jahre später. Städte, so Simmel, tragen mit ihrem Tempo, ihrer Differenzierung, Arbeitsteilung und Monetarisierung zu einer ,,Blasiertheit’’ des Geistesleben des Individuums bei. Diese Blasiertheit bedeutet gemäss Simmel, dass Individuen sich zu einem ,,Gebilde höchster Unpersönlichkeit’’ formieren lassen. Ein guter Grund für das heutige selbst-isolierte Individuum, sich in die Schriften von Ibn Bāǧǧa einzulesen. In Ibn Bāǧǧas ,,die Leitung des Einsamen’’ wird ein ganzes Regime für Selbstsorge eingeführt, um das Individuum (also den Vereinsamten) zu ermächtigen und seine Isolation nicht nur als Chance zu sehen, sondern vielmehr als den Weg zur Erlangung von Glückseligkeit und Selbst-Erfüllung. So wie Goethe einst mal sagte:
Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und was Bestimmtes zu tun hat.
Interessanterweise beginnt Ibn Bāǧǧa sein obengenanntes Werk, “Die Leitung des Einsamen”, mit der Gesundheit und wie man sich pflegt, um gesund und unabhängig von anderen zu sein. Je gesünder man bleibt, desto weniger ist man dann auf andere und die äussere Welt angewiesen. Um an dies zu gelangen, braucht man aber genügend Wissen. Würden Individuen sich genügend mit Wissen versorgen, bräuchte es, so Ibn Bāǧǧa, weniger Gesetze, Ärzte etc. Ein Ansatz, der auf die Medizin und Ethik zurückzuführen ist. Des Weiteren spricht er in einem weiteren Schritt über die Kultivierung des Geistes und Intellektes. Gemäss Ibn Bāǧǧa stellt die intellektuelle Erfüllung die höchste Form der persönlichen Erfüllung/ des persönlichen Wachstums dar. Ein Individuum soll in der Lage sein, sich mit sich selbst zu beschäftigen, um über sich zu reflektieren. So würde es nicht nur zu theoretischen Erkenntnissen gelangen, sondern auch seine tiefste innere Welt entdecken. Wenn es isoliert ist, entfernt vom ganzen Kram der Stadt, so kann das Individuum in aller Ruhe mehrere Facetten und Aspekte seiner Individualität kennen lernen und sich darüber bewusst werden. Dies könnte auch im Sufismus (Islamische Mystik) stattfinden . Denn in der ‘Uzlah oder Khulūwah (De. Abgeschiedenheit) geht man in die Welt der Einsamkeit, nicht nur damit man sich von den Sünden reinigt, aber auch um die Stadt von der Bösen Natur und von sich selbst zu schützen. Ob Ibn-Bāǧǧa die Lehre und die Praktiken des Sufis mitteilte, können wir nicht wissen. Jedoch war sein Protege, Ibn-Ṭufayl (lat. Avetophail, gest.1185), sehr fasziniert von der Idee der Einsamkeit – so wie er seinen Protagonist, Ḥayy, in seinem Inselroman ,,Der Philosoph als Autodidakt’’ (ar. Ḥayy ibn Yaqẓān) beschreibt. Ḥayy lebte seit langen Jahren einsam auf einer Insel, in welcher er die höchste Form der intellektuellen Erfüllung und Perfektion bereits erreichte. Bis ein unerwarteter Besucher, der Sufi Absal, zu ihm auf seine Insel ankam, um dort in aller Ruhe zu meditieren.
Angesichts der momentanen Lage und der Entwicklung der Pandemie (Covid-19) sind wir als Individuen damit konfrontiert, mit verschiedenen Massnahmen gegen die Pandemie zu leben. Dazu gehört auch die Selbstisolierung, um uns und andere zu schützen. Ibn Bāǧǧas Diskussion gewinnt somit eine neue Relevanz, insbesondere weil wir vermehrt Zeit mit uns alleine und isoliert verbringen. Darunter leiden auch die rituellen-religiösen Verrichtungen, wie das Gebet, Fasten-Brechen etc., welche in Gruppen stattfinden,. Hier wiederum lässt sich eine weitere Reflexion verbunden mit der Frage der Einsamkeit über das individuelle Verrichten von religiösen Ritualen nicht stoppen.
,,Und sie alle werden zu Ihm am Tag der Auferstehung einzeln kommen’’ ~ [19, 95]