Rezension – “Al-Shafaq – Wenn der Himmel sich spaltet”

Quelle: https://www.cineman.ch/movie/2019/AlShafaq/

red. Im Spielfilm “Al-Shafaq – Wenn der Himmel sich spaltet” porträtiert Regisseurin Esen Işık den Radikalisierungsprozess eines Jugendlichen aus einer türkischstämmigen Familie. Mit dem Spielfilm stellt sie den Versuch dar, das Thema “Radikalisierung” im schweizerischen Kontext zu beleuchten.

Die türkischstämmige Familie Kara lebt seit Langem in Zürich. Auf die Zuschauenden wirkt sie wie eine traditionell religiöse Familie, die wenig in der Gesellschaft integriert zu sein scheint. Der Vater Abdullah (Kida Khodr Ramadan) arbeitet als Taxifahrer und hat die familiäre Autorität inne. Die Mutter Emine (Beren Tuna) ist eine Hausfrau, die sich um ihre Kinder und den Haushalt kümmert. Kadir (Ali Kandas) ist der älteste Sohn und scheint sich der väterlichen Autorität zu fügen. Elif (Eda Gürbüz) ist die Jüngste der Familie und trägt ein Kopftuch. Burak (Ismail Can Metin) ist der jüngere Sohn, der das “Schwarze Schaf” der Familie Kara ist. Anhand von Burak wird veranschaulicht, wie sich ein Jugendlicher Schritt für Schritt radikalisieren kann.

Was die Darstellung der muslimischen Familie betrifft, so werden im Film Stereotypen bedient. Obwohl die familiären Kontexte für eine Radikalisierung sehr vielfältig sein können, wurde das Bild “der einen” muslimischen Familie mit patriarchalischen Prägungen ausgewählt. Der Familienvater Abdullah, der der ersten Migrantengeneration angehört und sich sehr bemüht, als Alleinverdiener für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen. Die Mutter Emine, die als Hausfrau keine finanzielle Unabhängigkeit hat und somit keine eigenständigen Entscheidungen in der Familie treffen kann. Dieses patriarchalische Familienbild wird durch den autoritären Erziehungsstil des Vaters verstärkt. Als strenggläubiger Vater zwingt er seine Kinder, den religiösen Pflichten wie dem Gebet nachzugehen und Bekleidungsvorschriften wie das Tragen des Kopftuches einzuhalten. Wenn seinen Vorschriften keine Folge geleistet wird, greift er zur physischen Gewalt. Die Kinder hingegen scheinen sich dem Machtgehabe des Vaters zu fügen, ziehen jedoch ausserhalb ihres familiären Umfelds ihr “Ding” durch. Dieses patriarchalische Familienbild ruft für die Zuschauenden eine Assoziation der “typisch” muslimischen Familie hervor.

Mit dieser Darstellung wird zugleich ein “Othering” und eine Definitionsmacht über “die muslimische Familie” betrieben. Muslimische Familien, die sehr unterschiedliche Familienstrukturen und Lebensweisen in der Schweiz aufweisen, werden auf das Bild “der muslimischen Familie mit patriarchalischer Prägung” reduziert. Somit wird ein starker Gegensatz zwischen “der schweizerischen Familie/Gesellschaft” und “der muslimischen Familie” gezeichnet. Dies manifestiert sich zudem in der Darstellung von Buraks Freundeskreis. Einerseits hat er einen Freundeskreis bestehend aus SchweizerInnen, die die Freiheit geniessen, alles in ihrer Jugend auszuprobieren. Andererseits wird das muslimische Umfeld mit seinen strengen Regeln sowohl im Elternhaus als auch in der Moscheegemeinde dargestellt.

Im Britisch-Amerikanischen Anti-Kriegs-Film, «Full Metal Jacket» portraitierte der amerikanische Filmregisseur, Stanley Kubrick, drei Protagonisten, die mit der ideologisch beladenen Militär-Akademie der US-Marines konfrontiert waren. Die für den Krieg, Ausgebildeten haben auf verschiedene Arten auf die offizielle Ideologie des Lagers reagiert und sind unterschiedlich damit umgegangen. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Figuren Private Leo, Joker und der strenge Leiter des Ausbildungslagers Ltd. Hartman. Private Leo hatte am meisten Mühe mit der Ausbildung, er konnte nicht konkurrieren oder performen, sein Körper war auch für die Ausbildung nicht fit genug. Joker hingegen konnte die Ausbildung besonders gut abschliessen. Sein Erfolg lag darin, dass er die Inhalte nicht besonders ernst nahm. Seine ironische Distanz zum Ausbildungsinhalt hat dazu beigetragen, dass er seine Überlebenschancen gesichert hat. Leo hingegen, der sich zu stark mit den vermittelten Inhalten und Hartmans überspitzten und zynischen Art identifizierte, radikalisierte sich mit der Zeit, bis er sich selbst und Ltd. Hartman das Leben nahm. Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei den Protagonisten in Esen Işıks “Al-Shafaq” zu beobachten. Burak findet seinen Platz im Leben nicht. Er findet keine Lehre. Mit der religiösen Praxis hat er auch Mühe. Sein strenger Vater muss ihn ständig zügeln. In dieser Orientierungslosigkeit findet Burak schliesslich bei einer radikalen Gruppe Halt und findet einen Sinn im Leben. Er wird Zuhause weiterhin nicht ernst genommen. Dann fängt er an, sich mit einer idealen Scheinwelt distanzlos zu identifizieren, beginnt auch seinen Geschwistern moralische Anweisungen zu geben und beteiligt sich an Koranverteilungsaktionen. Er merkt, dass keiner in der Familie den Idealen der Familie Folge leistet. Auch er hat zu wenig Distanz zur Ideologie des überpotenten und ignoranten Vaters und kommt zu seiner logischen Schlussfolgerung: So wie Leo für die Ideologie sterben musste, mit der er sich identifizierte, stirbt auch Burak

Im Laufe des Films ziehen sich die Gegensätze zwischen den zwei Lebenswelten durch und werden anhand von Buraks Radikalisierungsprozess veranschaulicht. Burak ist ein Jugendlicher, der sich wie jeder Andere seiner Altersgruppe in einer Identitätskrise befindet. Er kursiert in zwei unterschiedlichen, wie im Film dargestellt gegensätzlichen Lebenswelten: der Europäischen und derjenigen seines autoritär religiösen Elternhauses. Auf der einen Seite begehrt er ein hübsches blondes Mädchen, betrinkt sich mit seinen Freunden. Auf der anderen Seite beschäftigt er sich mit Fragen zu Gerechtigkeit und Leid, findet sowohl in seinem familiären Umfeld als auch im Moschee-Umfeld keine eindeutigen Antworten. Hinsichtlich Buraks Fragen zu Gerechtigkeit und Leid kann ihm der Imam in der Gemeinde seines Vaters keine eindeutigen Antworten geben. Zumal dieser ein sogenannter “Import-Imam” zu sein scheint, der die Realitäten der in der Schweiz lebenden Muslime verkennt und zugleich einen unreflektierten Islam vermischt mit Aberglauben und Okkultismus vertritt. Im Gegensatz zu diesem Imam wird ein anderer Imam dargestellt, der in einer Hinterhofmoschee am Stadtrand predigt, dessen Mitglieder bzw. Besucher hauptsächlich aus Konvertierten und “Drop-Outs” bestehen. Burak bekommt in dieser Moschee oberflächliche, monokausale Antworten auf komplexe Sachverhalte. Es wird ihm ein Zugehörigkeitsgefühl basierend auf einer einheitlichen Gesinnung und einer einheitlichen Kleidungsweise, dem sogenannten “Halal-Lifestyle” vermittelt. Ausserdem bekommt er die Chance, eine Lehre in einem dubiosen Halal-Kebab-Betrieb zu machen, bei dem die Mitglieder der Moschee arbeiten. In seinem neuen Umfeld wird er jedoch Schritt für Schritt in die extremistische Ideologie hineingezogen, die ihn dazu verleitet, in den Dschihad nach Syrien zu ziehen.

Das Interesse, welches die Regisseurin am Dschihad-Phänomen bekundet, wird im Film jedoch nicht gerecht. Die Berechtigung für Burak in den Dschihad zu ziehen, wird lediglich aus einer gesellschaftlichen Perspektive aufgezeigt. Er ist ein in der Schweiz lebender Jugendlicher, der seinen Platz in der Familie wie auch in der Gesellschaft nicht findet. Da ihm die Zukunftsperspektiven fehlen, entscheidet er sich dafür, in den Dschihad zu ziehen. Das Dschihad-Phänomen wird in diesem Kontext als Erlösung von der gescheiterten gesellschaftlichen und familiären Integration gesehen. Aus Perspektive der Islamischen Theologie ist dies kein berechtigter Grund, in den bewaffneten Dschihad in ein anderes Land zu ziehen. Zudem ist das Konzept des bewaffneten Dschihads in einer modernen, säkular und pluralistisch geprägten Welt grundsätzlich zu hinterfragen.

Der Film übt mit der Darstellung der Moscheen und deren Imame eine Kritik sowohl an MuslimInnen als auch an der Gesellschaft aus. Die im Film gezeigten Moscheen sind meist Moscheen, die sich am Stadtrand oder in einem Industriegebiet befinden. Moscheen haben somit eine marginale Stellung, indem sie in Stadtrände oder Industriegebiete zurückgedrängt werden. Ebenfalls greift der Film mit der plakativen und klischeehaften Darstellung des muslimischen Lebens die religiöse Integrität von MuslimInnen an. Nichtsdestotrotz kann diese Darstellung als eine Herausforderung gesehen werden, aus der Komfortzone zu steigen und gewisse Debatten anzustossen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Aspekte gesellschaftlicher oder theologischer Natur im Film nicht vorkommen. Durch die begrenzte Dauer des Films wird das Publikum häufig mit Fragen alleinstehen gelassen. Die Stärke der Kunst besteht auch darin, in der Gesellschaft Diskussionen anzuregen und Menschen zum Nachdenken zu bringen. Das Film-Publikum seinerseits hat die Verantwortung, Klischees zu hinterfragen und Themen zu vertiefen.

Abdullah übernimmt am Ende des Filmes die ,,Verantwortung’’ für die Taten seines Sohnes und sein eigenes Fehlverhalten in der Erziehung seines Sohnes, in dem er den kleinen Malik, dem Opfer der Taten von Dschihadisten wie Burak, adoptiert. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, den Schuldigen zu suchen oder die Schuld hin und her zuschieben. Verantwortung zu übernehmen bedeutet gemeinsam zu handeln, um Brücken zu bauen und Ungerechtigkeit zu erkennen und zu unterbinden.

Zum Schluss erinnern wir uns an die Worte des verzweifelten Derwisches in der Eulogie zu seinem zu Unrecht verurteilten Bruder in Mesa Selimovics historischer Roman «Der Tod und der Derwisch»:

“O Söhne Adams! Ich werde nicht predigen. Ich könnte es nicht, auch wenn ich es wollte. Aber ich glaube, ihr würdet es mir übelnehmen, wenn ich nicht über mich selbst sprechen würde in diesem Moment, dem dunkelsten meines Lebens. Es gibt nichts Wichtigeres für mich, als das, was ich sagen will. Aber ich versuche nicht einen Gewinn daraus zu schlagen. Nichts, ausser Mitgefühl in euren Augen zu sehen. Ich nannte euch nicht meine Brüder, auch wenn ihr dies mehr denn je seid. Viel eher nenne ich euch Söhne Adams und berufe mich dabei auf das, was wir alle gemeinsam haben. Dieses Verbrechen betrifft auch euch, da ihr die Schrift kennt: Wer auch immer einen Unschuldigen tötet, ist so, als ob er die gesamte Menschheit getötet hat. Sie haben uns alle unzählige Male getötet, meine ermordeten Brüder. Aber wir sind entsetzt, wenn sie unsere Liebsten treffen. Vielleicht sollte ich sie hassen, aber ich kann nicht; ich habe nicht zwei Herzen, eines für den Hass und eines für die Liebe. Das Herz, welches ich habe, kennt nur noch Trauer.

Ich bin wie Kain, dem Gott eine Krähe sandte, die den Boden aufscharrte, um ihn zu lehren, wie er den Körper seines toten Bruders begraben soll. Ich, der unglückliche Kain, unglücklicher als eine schwarze Krähe. Ich habe ihn nicht gerettet, während er am Leben war. Ich habe ihn nicht gesehen, nachdem er starb. Nun habe ich niemanden mehr, ausser mich selbst, meinen Herrn und meine Trauer. Gebt mir Stärke, so dass ich nicht verzweifle aus brüderlicher und menschlicher Gram, oder mich mit Hass vergifte. Ich wiederhole die Worte Noahs: Trenne mich von ihnen und Urteile über uns.”