
aa. Vor kurzem kam unser Freund, der Ramadan, wieder aus seiner Heimat zurück. Den Ramadan bezeichne ich als Freund, da einmal ein Fernsehmoderator im türkischen Fernsehen in einer typischen Ramadan-Sendung vom „Freund Ramadan“ sprach.
Der Ramadan ist ein guter, vielleicht sogar der beste Freund, den man sich nur wünschen kann. Er erinnert seine Freunde, was im Leben wirklich zählt. Nein – die Rede ist nicht von der täglichen überlebenswichtigen Ernährung. Gemeint sind Tugenden, die uns der Ramadan auf eine unübliche Art und Weise beibringt.
Zwei wichtige Tugenden, die uns der Ramadan lehrt, sind Geduld und Dankbarkeit. Musliminnen und Muslime verzichten im Ramadan von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf das Essen und Trinken. So gibt es tagsüber immer wieder Momente, in denen man den Hunger und den Durst mehr oder weniger zu spüren bekommt und geduldig sein muss, bis das Fasten gebrochen werden kann. Die Geduld ist eines der Tugenden, in der wir uns in diesem Monat sehr oft üben. So sagte Prophet Muhammad: „Geduld ist die Hälfte des Glaubens, und Dankbarkeit ist die andere Hälfte.“ Besonders den Zustand der Dankbarkeit erleben wir in diesem Monat sehr oft. Der erste Schluck Wasser nach 16 Stunden Enthaltsamkeit, welcher durch die Kehle gleitet, der erste Löffel Suppe, der unsere Geschmacksnerven wieder aktiviert! Auch merken wir, wie schön es ist, zu essen und zu trinken – und dass die Versorgung des Menschen gar nicht so selbstverständlich ist. Sehr interessant ist, dass wir in dieser Zeit Gerüche besser wahrnehmen oder den Geschmack besser erleben. Auch ruft das Fasten in uns eine stärkere Empathie gegenüber Schwächeren in der Gesellschaft auf und regt uns so zum Nachdenken an.
Das Fasten ist eine ungewöhnliche Handlung im Vergleich zum normalen Alltag mit einem festen Essensrhythmus. Plötzlich fällt der gute Kaffee vor der Arbeit weg, man isst nicht mehr zu Mittag oder zwischen den Mahlzeiten wie gewohnt. Der Körper gewöhnt sich in kürzester Zeit an einen neuen Rhythmus. Diese Umstellung führt automatisch dazu, dass einem bewusst wird, dass ein Alltag auch ganz anders aussehen kann. So werden beispielsweise Handlungen stärker reflektiert – Reflexion ist ein gutes Mittel, gewohnte Handlungen neu zu denken. Wir kommen so aus einer uns gewohnten Routine heraus. Darüber hinaus macht man sich in dieser Zeit auch verstärkt Gedanken darüber, was die eigenen Lebensziele sind und ob diese mit der jetzigen Situation im Einklang stehen.
Besonders vor Sonnenaufgang fragt man sich oft, ob man genug gegessen oder getrunken hat, um während dem Tag gut auszukommen. Auch wird man mit der Frage, ob das Fasten gesund sei, öfters aus dem nicht-muslimischem Umfeld konfrontiert. Wer schon einmal gefastet hat, wird die Erfahrung teilen können, dass durch das Fasten eine Vertrauenshaltung in Gott entwickelt wird. Wir lernen nämlich, dass der Körper während der Fastenzeit „in guten Händen“ ist und wir als Menschen nicht alles kalkulieren können. Diese Haltung birgt durchaus auch positive Effekte auf eine innere Gelassenheit, die wir auch als Achtsamkeit beschreiben könnten. Durch den stärkeren Hunger und Durst nehmen wir unsere körperlichen Bedürfnisse besser wahr, was wiederum dazu führt, dass man sich stärker auf das hier und jetzt konzentriert.
Besonders in dieser Zeit mit Covid-19 wissen wir die für uns selbstverständliche Gemeinschaftlichkeit sehr zu schätzen. Das gemeinsame Fastenbrechen mit Familie, Freunden und fremden Menschen sowie die nächtlichen Gebete in der Moschee sind klassische Bestandteile des Ramadans. Unter den besonderen, aktuellen Umständen mit der Covid-19-Pandemie steht die Gemeinschaftlichkeit – jedenfalls im physischen Sinne – nicht im Vordergrund. Vielmehr hat dieser Aspekt eine andere Dimension erhalten. Denn die ausserordentliche Lage hat dazu geführt, dass Musliminnen und Muslime andere Wege gefunden haben, die Gemeinschaft im Ramadan aufrechtzuerhalten. So haben sich ursprüngliche physische Meetings zu digitalen Meetings verwandelt. Vorträge während dem Ramadan, die nur vor Ort stattgefunden haben, wurden in diesem Jahr digital ausgestrahlt. Auch wurden neue Formen der Kommunikation und Verbindung gefunden, die ganz sicher auch nach dieser aussergewöhnlichen Zeit Platz im gesellschaftlichen Leben finden werden. Der „Covid-19-Ramadan“ lehrt uns hier, dass Potential in der Gemeinschaft vorhanden ist und durchaus ausgeschöpft werden kann. Vielleicht bringt uns Covid-19 näher zusammen als wir denken?
Um es auf den Punkt zu bringen: Mein Freund, der Ramadan, sagt implizit: „Fastender, du kannst das auch an anderen Monaten. Du kannst diese Tugenden, die du fest in dir trägst, auch ausserhalb vom Ramadan aufrechterhalten. Du hast in dir das Potential, dein Bestes zu geben!“
Doch der Ramadan geht bald wieder und wird gewiss seine Aufgabe erfüllt haben. Hoffen wir auf einen Ramadan im nächsten Jahr, in welchem sich Familie und Freunde wieder gegenseitig einladen können, sich die Moscheen zum Nachtgebet wieder füllen und gemeinsame, wunderschöne öffentliche Fastenbrechen als Orte der Begegnung wieder möglich sind!
„Es war der Monat Ramadan, in dem der Koran (zuerst) von droben erteilt wurde, als Rechtleitung für den Menschen und evidenter Beweis dieser Rechtleitung und als der Massstab, mit dem das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist. (…)“
Koran, Sura al-Baqara, Vers 185