Von Yavuz Tasoglu
Im Dezember 2020 schrieb das Komitee zur Eidgenössischen Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» auf seiner Facebookseite: «Wir kämpfen mal wieder im Verhältnis ‹David gegen Goliath›. Unterstützen Sie darum jetzt unsere Kampagne.» Es ist schon amüsant zu beobachten, wie sich Mitglieder des Egerkinger Komitees, immerhin in der Lage über 100’000 Unterschriften für eine Volksinitiative zu sammeln, sich in der Öffentlichkeit als den schwachen David inszenieren. Amüsant deshalb, weil es sich beim Goliath um höchstens 30 Damen handelt, die in der Schweiz einen Gesichtsschleier tragen (Tunger-Zanetti, 2021)[1]. 12 Jahre zuvor waren es die vier Minarette, welche David mit einer Plakatkampagne erfolgreich bekämpfte. Seither ist die Schweiz das einzige Land auf der Welt, das den Bau von Minaretten auf Verfassungsebene verbietet.
Und auch heute hat sich die Realität, und das ist jetzt nicht sarkastisch gemeint, praktisch nicht verändert: Es sind hauptsächlich Mitglieder der wählerstärksten Partei der Schweiz, der Schweizerischen Volkspartei, welche die Freiheitsrechte einer Minderheit angreifen, im Fall der Burka sogar eine Minderheit in einer Minderheit, um die Schweiz vor einer Islamisierung zu schützen. Um das Ganze humaner darzustellen, sprechen sie mittlerweile sogar davon, die Frau vor dem patriarchalischen Mann schützen zu wollen. Dabei entgeht dem Egerkinger Komitee, dass es sich bei den Schweizer Burkaträgerinnen wie in anderen Ländern Westeuropas hauptsächlich um Frauen aus muslimischen oder christlichen Familien ohne religiöse Praxis handelt, die den Gesichtsschleier aus religiöser Überzeugung tragen, nachdem sie als Erwachsene den Islam für sich entdeckt haben. Fakten werden bei politischen Abstimmungen aber nur dann relevant, wenn sie auch Gehör finden. Bei den ungleichen Kräfteverhältnissen zwischen den 30 verschleierten Damen und dem Egerkinger Komitee, ist unser Goliath schon an Wunder angewiesen!
Ein benötigtes Wunder wäre die Entemotionalisierung der Debatte und nüchterne Faktenbetrachtung durch die Stimmbürger. In dieser Abstimmung geht es primär um die Einführung der Wertevorstellung «Ich möchte das Gesicht meines Gegenübers sehen» auf Verfassungsebene. Von einer Wertevorstellung wird deswegen gesprochen, da die heutige Gesetzgebung vollkommen ausreicht, dass sich eine Frau in der Schweiz aus den «unterdrückenden» Fängen eines Mannes befreien kann. Daher ist das Argument, der Verfassungszusatz diene dem Schutz der Frau, überflüssig. Diese Feststellung wurde von Bundesrätin Keller Sutter mehrfach bestätigt.
Aus philosophischer Sicht betrachtet, bringt das Festhalten eines Wertes auf Verfassungsebene Probleme mit sich, da die Wertevorstellungen einer Gesellschaft dem Wandel unterworfen sind. Die weltweite Pandemie im Jahr 2020 hat gezeigt, dass die Schweizer Bevölkerung zum Schutz der Gesundheit bereit ist, auf ein Stück Freiheit zu verzichten. Masken werden an öffentlichen Plätzen getragen, man begrüsst sich ohne die Hände zu schütteln, sogar an Vorstellungsgesprächen. Ein Novum, was vor über ein Jahr nicht im Ansatz denkbar gewesen wäre.
Die Schweizer Verfassung ist das oberste Regelwerk aller Schweizer, unabhängig welcher Konfession oder Gesellschaftsgruppe man angehört. Sie sollte daher als Leitfaden für alle dienen und so die Harmonie in der Gesellschaft aufrechterhalten. «Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» steht in der Präambel unserer Verfassung. Ansichten des Egerkinger Komitee, die ganz klar islamfeindlich motiviert sind, widersprechen genau diesem Ideal. Und solange wir ihren Forderungen mit falschen Narrativen nachgehen, treten wir nicht nur die Freiheitsrechte von Minderheiten mit Füssen, sondern auch unsere eigenen Prinzipien.
[1] Tunger-Zanetti, Andreas: Verhüllung – die Burka-Debatte in der Schweiz, unter Mitarbeit von Cornelia Niggli, Asia Petrino, Noémie Marchon, Julia Meier, Lea Wurmet, Zürich: Hier und Jetzt, Januar 2021, 156 Seiten, 5 Abbildungen, gebunden, ISBN: 978-3-03919-530-5.