Gastbeitrag von Muris Begovic
Zürich, 05. Dezember 2020
Zu Beginn des Covid-Lockdowns war die Stimmung in der Gesellschaft deutlich anders als wir sie heute haben. Alle waren betroffen. Plötzlich verspürte man einen Zusammenhalt, egal welcher Herkunft jemand ist. Weltanschauung, Religionszugehörigkeit, Zugehörigkeit einer politischen Partei oder andere Überzeugungen waren zweitrangig. Ich erinnere mich an den Sonntagmorgen, wo mein Freund Rabbiner Noam Hertig, mein Freund Pfarrer Christof Sigrist und ich gemeinsam mit unserer Kollegin Dechen Kaning, in unseren jeweiligen Traditionen, am Zürcher Hauptbahnhof beteten. Wir alle baten auf eine ähnliche Art und Weise Gott um Geduld und Ausdauer. Wir beteten zu Gott für die Stärkung unserer Ärzte, des Pflegefachpersonals, der Seelsorgenden und aller anderen Dienste in den Spitälern und Kliniken. Wir haben auch unsere Väter und Mütter, die in den Lebensmittelläden, auf dem Bau und in der Pflege täglich für uns da sind, nicht vergessen. Erstaunlich war, dass in diesen Tagen niemand danach gefragt hat, ob jemand von diesem Personal einen Migrationshintergrund hat, oder welcher Religion diese oder jene Person angehört. Die ganze Schweiz bedankte sich bei ihnen und sie alle bekamen den grössten Applaus, den man sich überhaupt vorstellen kann. „Die Schweiz sagt danke“ war das Motto.
Heute, etwa sieben Monate später, sieht die Situation leider ganz anders aus. In der Zwischenzeit begannen die Fallzahlen wieder an zu steigen. Die Stimmung war aber leider nicht mehr die gleiche. Im Frühjahr konnte man nebst den formellen Massnahmen in fast allen Ansprachen der Bundesrätin Simonetta Sommaruga Worte der Hoffnung und des Trosts hören. Heute spricht man nur noch von Zahlen. Ja, wir alle sind zu Zahlen geworden von denen täglich berichtet wird. Entweder ist die Rede von den Erkrankten, von denen, die auf der Intensivstation sind oder von jenen, die gestorben sind. Dann wird wieder eingegangen auf die bisherigen wirtschaftlichen Verluste aufgrund von Corona oder, diejenigen Verluste, wie zum Beispiel mit der Ski-Saison, die noch auf uns zukommen werden. Dieser Fokus auf Zahlen offenbart manchmal einen Mangel an Empathie. Es gibt so viele Menschen die erkrankt oder gestorben sind. So viele bangen um ihre Liebsten und können sich nicht von ihnen verabschieden.
Ich warte darauf, dass unsere Politikerinnen und Politiker etwas Empathie zeigen und den Covid-19-Verstorbenen gedenken oder eine Anteilnahme mit den Familien zeigen die täglich von Minute zu Minute darauf warten, die schlimmste Nachricht zu erhalten. Viele fragen sich wie wohl dieses Jahr Weihnachten gefeiert werden kann. Vielleicht wäre es eine gute Gelegenheit dieses Weihnachten den an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen zu widmen. Auf der einen Seite wünsche ich mir mehr Empathie der Politikerinnen und Politiker, aber die Entwicklung ist andererseits leider eine ganz andere. Wie in vielen anderen Fällen ist es auch dieses Mal nicht anders, dass wir über die Grenze schauen und eine Diskussion führen die von „dort“ aufgesetzt wird. Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz schaffte es wieder einmal die Schuld den Ausländerinnen und Ausländern in die Schuhe zu schieben, in dem er die Menschen vom Balkan und aus der Türkei für den Anstieg der Corona-Infektionen verantwortlich machte. Die BaZ-Online berichtete am 1. Dezember 2020: „Nach Angaben von Pflegefachleuten belegen überdurchschnittlich viele Patienten mit Migrationshintergrund die Intensivstationen“. Und der Baselbieter SVP-Präsident Dominik Straumann hat auch schon einen Sündenbock für die steigenden Corona-Zahlen, wie er im erwähnten Text der BaZ-Online zitiert wird: „Die ersten Zahlen bis vor den Herbstferien liessen auf eine Kumulation unter Balkanrückkehrern schliessen“. Auch im Nationalrat reichte der SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi am 02. Dezember 2020 einen Vorstoss ein mit dem Titel: „Corona-Heimkehrer aus dem Balkan und Wirtschaftsmigranten aus Afrika und arabischen Ländern besetzen unsere Spitalbetten“, wobei vollkommen ausgeblendet wird, dass das Gesundheitswesen mit seinem überdurchschnittlichen Personalanteil von Migrantinnen und Migranten, auch aus dem Balkan und aus Afrika, erst diese Pflegeplätze ermöglicht, von denen hier die Rede ist.
Solche Aussagen dienen vielleicht gewissen Politikern, die bei ihrer Wählerschaft punkten wollen. Dies ist sicher wichtig in der Politik und durchaus nachvollziehbar. Wirklicher Erfolg wäre aber eine Balance zwischen dem Amt und der Politik. Ein echter Staatsmann oder eine echte Staatsfrau stellt immer den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Vordergrund und handelt danach, dass es möglichst allen in der Gesellschaft gut geht, nicht nur einem bestimmten Teil. Vor allem wird nicht auf bestimmte Gruppen in der Gesellschaft mit dem Finger gezeigt und ihnen die Schuld zugeschoben.
Liebe Staatsfrauen und liebe Staatsmänner der Schweiz, bitte nehmen Sie sich kein Beispiel am österreichischen Kanzler oder solchen Politikern, die die Schuld bei einer bestimmten Gruppe oder Minderheit suchen. Und bitte zeigen Sie uns, dass wir nicht bloss Zahlen sind, von denen täglich berichtet wird. Seien Sie in Ihren Gedanken mit den Betroffenen und zeigen Sie Empathie, unabhängig davon woher sie kommen und was für einen Hintergrund sie haben.