
ah. Die Fernseh-, Radio- und Zeitungsbeiträge zu den Themenkomplexen «Imam» und «muslimische Frau» sind Legion. In den letzten Tagen wurden gleich zwei Fälle publik. Ein Imam in Kriens LU hat dem Vernehmen nach in einer Predigt zum Disziplinieren der Ehefrau mit Schlägen aufgerufen. Ein anderer soll anscheinend jahrelang seine Ehefrau physisch, psychisch und sexuell misshandelt haben.
Es prallen Welten in diesen Fällen aufeinander: Islam, Gender, religiöse Autorität, das Rechtssystem, Staatsgewalt, Migrationspolitik…
Erneut sind Imame und muslimische Frauen landauf und landab das Hauptthema der Schlagzeilen. Mit dem Imam und der muslimischen Frau lässt sich wohl wie mit kaum einem anderen Thema das zyklische Medienkarussell anwerfen und die Arena des öffentlichen Schlagabtausches einheizen.
Sind Imame nun gefährliche Radikalisierer? Und soll man endlich die Vollverschleierung verbieten? Fordert der Koran eigentlich Gewalt gegen Frauen? Und wäre es angebracht Moscheen zu überwachen?
I would prefer not to
Wenn sich wieder einmal die Rössli auf der medialen Ringelbahn anfangen zu drehen, lohnt es sich, getreu dem Motto des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, einen Schritt zurück zu treten: «I would prefer not to».
In diesem Sinne möchte ich lieber nicht bei der medialen Scharade des guten und bösen Muslims, des treuen und untreuen Bürgers und des liberalen und des konservativen Imams mitmachen. Fremdbestimmung kann nicht dem selbstbestimmten Denken und Handeln vorgezogen werden. Zu denken aber, dass der aktuelle politisch-medial-öffentliche Diskurs zum Islam in der Schweiz nicht eine Manifestation der Macht der Mehrheit und ein Werkzeug zur Disziplinierung einer Minderheit ist, würde wohl an Naivität grenzen.
Genau deshalb lohnt sich das «nicht wollen».
Sexueller Nationalismus
Im öffentlichen Diskurs bilden Geschlechtergleichheit und männliche Homosexualität die zentrale Demarkationslinie zwischen «einheimischen Schweizern», oder etwas völkischer – «Eidgenossen» und «Migranten», oder auch hier etwas völkischer – «Papierlischwyzern». Migranten, vor allem auch Muslime, die die «richtigen» Schweizer Werte hinsichtlich Geschlechtergleichheit und sexueller Diversität vermeintlich nicht akzeptieren, werden so als Bedrohung wahrgenommen und der vorgeblich zivilisatorische Diskurs der Mehrheit wird als Werkzeug der symbolischen öffentlichen Inklusion und Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen genutzt. [1]
Dass es sich hierbei nicht um eine Einzelerscheinung handelt, zeigen auch exemplarisch die Ereignisse um die Einbürgerung eines landesweit bekannten Imams in Wil.
In offensichtlicher Missachtung eines geregelten Verfahrens und üblicher schweizerischer Rechtsgepflogenheiten wollte eine Stadtparlamentarierin mit einem Fragenkatalog in Form eines öffentlichen Briefs eine symbolische standgerichtliche Inquisition des Imams durchführen. Er sollte, völlig abstrahiert von seinem jahrzehntelangen lokalen, regionalen und nationalen Engagement, zwölf Fragen beantworten, von denen neun dem Themenkomplex Gender-Frau-Homosexualität zuzuordnen sind. [2]
Gerne geht bei solchen «Aktionen» und der begleitenden Berichterstattung der Umstand vergessen, dass die Schweiz eines der letzten Länder in Europa war, welches 1972 das Frauenstimmrecht einführte. Bis zur Revision des Eherechts im Schweizer Familienrecht von 1988 blieb die Frau «dem Manne untertan» und war in ihrer Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkt (z. B. Nutzungsgewalt des Ehemannes über ihr Vermögen, kein Mitbestimmungsrecht bei der Wahl des gemeinsamen Wohnsitzes, keine Berufstätigkeit ohne Erlaubnis des Ehemannes). Ich gehöre also zur ersten Generation von Schweizerinnen und Schweizern, die seit ihrer Geburt in einem Rechtssystem mit der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau aufgewachsen sind.
Auch heute ist die Schweiz, getrimmt auf ihre wirtschaftliche Produktionsfähigkeit, eines der Schlusslichter in Europa, wenn es um die reale Gleichstellung der Geschlechter hinsichtlich Lohngleichheit, Mutter- und Vaterschaftsurlaub, Frauen in Führungspositionen, subventionierten Betreuungsplätzen usw. geht. Einige Teile der Bevölkerung möchten gerne diesen Status der permanenten Benachteiligung der Frau und der Ungleichbehandlung der Geschlechter zementieren. Vorgeschoben werden dabei Eigenverantwortung und traditionelle Familienwerte. Die Gründe dahinter sind wohl aber woanders zu verorten.
Das Bisherige soll keine Rechtfertigung frauenfeindlicher Aussagen und Verhaltensweisen innerhalb muslimischer Gemeinschaften sein, die weiter unten eingehender thematisiert werden.
Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller beschreiben in ihrem wegweisenden Aufsatz zum methodologischen Nationalismus in den Sozialwissenschaften das Phänomen des “bewussten Vergessens” zwecks Affirmation der eigenen nationalen Identität. Ein Bewusstsein für die nahe Vergangenheit und eine Reflexion über das bewusste, ja methodische Vergessen der Geschichte zwecks der eigenen Identitätsbildung basierend auf der einer konstruierten Überlegenheit gegenüber vermeintlich primitiv-barbarischen, frauenschlagenden muslimischen Migranten würde manchmal gut tun. [3]
Implizite Orthodoxie
Dieser Versuch eines «I prefer not to» soll aber nicht einfach nur eine krude Abrechnung mit dem aktuellen politisch-medial-öffentlichen Diskurs zum Islam in der Schweiz sein.
Als jemand, der sich selbst klar in der muslimischen Gemeinschaft in Zürich, bzw. in der Schweiz verortet, ist es für mich oft unverständlich, nach welchen Kriterien muslimische Gemeinschaftsorte etabliert und religiöse Betreuungspersonen engagiert werden – um es so neutral und allgemein wie möglich zu formulieren.
«Moscheen», oder eher «muslimische Gemeinschaftsorte» lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen. Zum einen sind da diejenigen, die von muslimischen Arbeitsmigranten einer gemeinsamen ursprünglichen Herkunft, z. B. aus einem Dorf in Nordmazedonien, etabliert wurden. Dann diejenigen Moscheen, die von bestimmten konfessionellen und ideologischen Ausrichtungen getragen werden, wie z. B. Salafisten, Muslimbrüder, Sufi-Kongregationen etc. Darauffolgend unterschiedlichste Gemeinschaften arabischer Provenienz, oftmals finanziert von privaten Geldgebern aus dem Nahen Osten. Schlussendlich die grösseren Verbände albanischen, bosniakischen und türkischen Ursprungs, mit mehr oder weniger formalisierten strukturellen und finanziellen Verbindungen zu Prishtina, Skopje, Sarajevo und Ankara.
Von der lokalen Moscheegemeinde über die ethnischen und kantonalen Verbände, bis hin zu den nationalen Dachverbänden, ziehen sich dieselben Probleme durch: mangelnde Finanzen, Abhängigkeit von Freiwilligenengagement, geringe Professionalisierung und schwacher Organisationsgrad.
Am eklatantesten ist dies jeweils in den lokalen Moscheegemeinden ersichtlich und hier kommen auch die Imame ins Spiel.
Weil Moscheegemeinden oft eigentlich zu klein sind, um das Gemeindeleben wirklich aufblühen zu lassen und sogar um die Räumlichkeiten zu mieten, muss gespart werden. Der Lohn der religiösen Betreuungsperson(-en) ist meist der grösste Budgetposten, weshalb auch hier die Schraube angesetzt wird, bzw. einfach das Geld für einen vollamtlichen Imam fehlt. Dann kommt der Weekend-Imam ins Spiel, der auf Honorar-Basis das Freitagsgebet macht und die Kinder am Wochenende unterrichtet. Manchmal auch völlig unentgeltlich. Es können sich auch mehrere Freiwillige die Aufgaben untereinander aufteilen. Dann macht einer die täglichen Gebete, der zweite das Freitagsgebet, der dritte den Koranunterricht mit den Kindern und der vierte schmeisst die Bildungsangebote für die Erwachsenen. Vollzeitimame und die türkischen Staatsbeamten («-imame») sind nicht das Thema des vorliegenden Artikels – auch wenn sie ihre eigenen Probleme und Herausforderungen mit sich bringen. Viel eher soll hier ein anderer Typus von «Imamen» angesprochen werden.
Eine kohärente Qualitätskontrolle oder irgendeine Form der Aufsicht über die vermittelten Inhalte sind nichtexistent. Die Auswahlkriterien für «Imame» sind schleierhaft. Meist hat der «Imam» keine formelle religiöse Ausbildung, sondern ist einfach derjenige, der – wenn es gut kommt – am schönsten rezitiert, oder wohl öfter derjenige, der sich am striktesten an die jeweils geläufigen, impliziten Vorstellungen von religiöser Orthodoxie innerhalb der betreffenden Gemeinschaft hält und diese Orthodoxie möglichst lautstark propagiert. Hier sind auch die jeweiligen, in den Schlagzeilen zu Recht sehr negativ aufgenommenen Äusserungen von Imamen gegenüber Andersgläubigen, Frauen und Homosexuellen einzuordnen. In ihrem Weltbild sind sie die alleinigen Besitzer der Wahrheit, die Herren über ihre Frauen und Familien und die «echten Männer» wider die «abnormalen Homosexuellen».
Es stellen sich hinsichtlich dem Islam-Verständnis hiesiger Musliminnen und Muslime also mehrere Fragen: Was verstehen Musliminnen und Muslime in der Schweiz unter Religion und Religiosität? Soll es bei ihrem Islam-Verständnis nur um den Erhalt quasi-tribalistischer Identitätssymbole, wie der unreflektierten Praxis religiöser Rituale, dem Bedecken der muslimischen Frau und dem Konsum rituell präparierter Fleischprodukte gehen? Ist der Islam nicht mehr als das?
Fazit
Interessanterweise drehen sich sowohl der dominante Mehrheitsdiskurs der Gesellschaft, als auch der dominante Diskurs innerhalb der muslimischen Minderheit zu einem grossen Teil um ebendiese Symbole: Die muslimische Frau und vor allem ihre Bekleidung (Kopftuch, Burka, Burkini) und um religiöse Rituale im allgemeinen (Imame, Moscheen, Freitagspredigten, Beschneidung, Halal-Fleisch etc.)
Tatsache ist, dass die muslimische(n) Gemeinschaft(en) in der Schweiz momentan keine Gefässe der internen Deliberation und Auseinandersetzung über ihr eigenes theologisches Selbstverständnis haben, oder über ihre Selbstverortung in der Gesellschaft, in der sie leben. Diese Aufgabe kann ihnen aber niemand abnehmen.
Andererseits sendet die schweizerische Öffentlichkeit und Politik gemischte Signale aus. Im europäischen Vergleich sind die Musliminnen und Muslime in der Schweiz, weniger Arbeitslos, pflegen häufig Kontakte zu Personen anderer Religionen, fühlen sich zu einem grossen Teil verbunden mit der Schweiz und sind insgesamt besser integriert. [4] Dennoch werden sie in den Medien übermässig negativ dargestellt. [5] Trotz ihrer grösstenteils unproblematischen und in diesem Sinne entsprechend der restlichen Bevölkerung, positiven Teilnahme an der schweizerischen Gesellschaft, sind die substantiellen Schritte der Mehrheitsgesellschaft relativ rar gesät, abgesehen von einzelnen vorbildhaften kantonalen Initiativen mit Pionierfunktion.
Sowohl die Gesamtgesellschaft im Generellen, als auch die muslimische Minderheit im Partikulären müssen sich also fragen und darüber klar werden, was sie eigentlich voneinander wollen.
[1] Das Konzept des «sexuellen Nationalismus» («sexual nationalism») wurde das erste Mal im Kontext der Forschung zum öffentlichen Islam-Diskurs in den Niederlanden eingeführt, vgl. hierzu z. B.: Sportel, Iris (2017): Who’s Afraid of Islamic Family Law? Dealing with Shari‘a-based Family Law Systems in the Netherlands. Religion and Gender 7, 1, 53-69.
[2] Der gesamte Fragenkatalog: https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/wil-zwoelf-fragen-an-bekim-alimi-ld.579442
[3] Wimmer, Andreas, Glick Schiller, Nina (2003): “Methodological Nationalism, the Social Sciences, and the Study of Migration: An Essay in Historical Epistemology.” The International Migration Review 37, 3, 576-610.
[5] https://www.ekr.admin.ch/pdf/Studie_Qual_Berichterst_D.pdf