Von Abduselam Halilovic
Die Anliegen der Konzernverantwortungs- und der Kriegsgeschäfteinitiative
Die Schweiz stimmt ab am 29. November 2020. Auf Bundesebene betrifft dies die beiden Volksinitiativen «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» und «Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten», bzw. die «Konzernverantwortungsinitiative» und die «Kriegsgeschäfteinitiative».
Die InitiantInnen der Konzernverantwortungsinitiative verlangen insbesondere, dass Schweizer Unternehmen prüfen, ob ihre Tochterunternehmen, Zulieferer und Geschäftspartner bei deren Geschäftstätigkeit die Menschenrechte und die Umweltstandards einhalten. Die Unternehmen müssten Massnahmen ergreifen, um gegen allfällige Verstösse vorgehen zu können; zudem sollen sie auch für das Fehlverhalten ihrer Tochterunternehmen und der von ihnen kontrollierten Unternehmen haften. Alle Schadensfälle, die diese Unternehmen verursachen sollen von Schweizer Gerichten nach Schweizer Recht beurteilt werden.
Das Initiativkommittee der Kriegsgeschäfteinitiative will ein Finanzierungsverbot auf jegliche Art von Kriegsmaterial einführen für die Schweizer Nationalbank, Stiftungen sowie Einrichtungen der staatlichen und beruflichen Vorsorge. Zum einen sollen Kriegsmaterialproduzenten keine Kredite mehr erhalten; zum anderen soll auch der Besitz von Aktien von Kriegsmaterialproduzenten und Anteilen an Fonds, die solche Aktien enthalten, verboten werden. Als Kriegsmaterialproduzenten würden gemäss Initiative alle Unternehmen gelten, die mehr als fünf Prozent ihres Jahresumsatzes mit der Herstellung von Kriegsmaterial erwirtschaften. Überdies soll sich die Schweiz dafür einsetzen, dass dieses Verbot weltweit für Banken und Versicherungen angewendet wird.
Die aufgeführten Anliegen der beiden Initiativen zeigen bereits ihr explosives Potential. Die Schweiz ist ein äusserst attraktiver Standort für Grosskonzerne, von denen einige wie z. B. Glencore immer wieder Schlagzeilen machen. Ebenso ist die Exportindustrie, darunter auch der Export von Rüstungsgütern ein zentraler Aspekt der Schweizer Wirtschaft. Profitmaximierung scheint mit einer ethisch vertretbaren Wirtschaftstätigkeit im Konflikt zu stehen.
Die Rolle religiöser Gemeinschaften in einer säkularen Gesellschaft
Im Kontext vor allem der Konzernverantwortungsinitiative wurden die Haltungen der reformierten und der römisch-katholischen Kirche breit und teilweise auch kontrovers diskutiert in der medialen Öffentlichkeit. Unter anderem die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS), die Schweizer Bischofskonferenz und der Verband Freikirchen Schweiz (VFG) stellen sich hinter die Anliegen der Konzernverantwortungsinitiative. Andere Religionsgemeinschaften, auch die jüdischen und muslimischen Organisationen und Verbände äussern sich nicht zu den beiden genannten Initiativen. Dies hat verschiedene Gründe, darunter auch die Minderheitensituation, die mit ihren ganz eigenen Problematiken und Herausforderungen einher geht. Insbesondere waren und sind die muslimischen Organisationen in den letzten Wochen auch vermehrt gezwungen sich mit religiös motiviertem Radikalismus und der einschlägigen öffentlichen Debatte auseinander zu setzen, so dass für viele wichtige Anliegen einfach keine weiteren Kapazitäten vorhanden sind. An dieser Stelle sei jedoch auf einzelne ExponentInnen verwiesen, die sich dennoch äussern, wie z. B. die Zürcher Muslimin Merve Sulemani in einem Artikel von Zeinab Ahmadi in der interreligiösen Zeitung «zVisite». [1]
Da es sich bei beiden Vorlagen zur Konzernverantwortung und zu Kriegsgeschäften um zutiefst wirschafts- und sozialethische Fragestellungen handelt, ist es sicher lohnenswert eine muslimische Perspektive darauf zu beleuchten, auch unter dem Aspekt der Rolle von Religionsgemeinschaften oder von Religion allgemein in einer säkularen Gesellschaft.
Der Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte den bekannten und kontroversen Satz, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. [2] Gemeint ist hier ein verbindendes Ethos, welches vom Staat weder erzwungen, noch durchgesetzt werden kann – die gelebte Kultur, die unter anderem geprägt ist von Christentum, Aufklärung und Humanismus. [3] Das Böckenförde-Diktum kann, muss aber nicht, als ein Aufruf oder eine Herausforderung an die Kirchen, bzw. an weitere religiöse Gemeinschaften, wie eben die muslimische, verstanden werden, sich gemeinsam mit allen anderen gewillten gesellschaftlichen AkteurInnen und Bewegungen aus ihrer ganz eigenen ethisch-moralisch-religiösen Tradition heraus am Entstehen und am Leben des gemeinsamen gesellschaftlichen Ethos zu beteiligen und dies als eine ihrer zentralen Aufgaben wahrzunehmen. Nicht zuletzt wäre es auch vom Standpunkt der Diskursfähigkeit in einer pluralen Gesellschaft her und im Sinne ihrer Selbstverortung darin wichtig für die muslimischen Gemeinschaften, sich auch aktiv, mit eigenen, ausformulierten Positionen an gesellschaftlichen Diskursen zu beteiligen.
Heruntergebrochen auf die Lebensrealität in der Schweiz kann hierzu das Booklet «Staat und Religion im Kanton Zürich» der Direktion der Justiz und Innern des Kantons Zürich mit den darin aufgeführten Leitsätzen als Beispiel aufgeführt werden: [4]
- Religiöse Überzeugungen bilden eine wichtige Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
- Moralische Grundlagen
- Solidarität und Interesse am Gemeinwohl
- Die religiösen Gemeinschaften wahren den öffentlichen Frieden.
- Übernahme von Verantwortung
- Ausrichtung an der Allgemeinheit
- Aber: Religionen beinhalten auch Konfliktpotential.
- Die staatliche Rechtsordnung stellt den verbindlichen, für alle Religionsgemeinschaften gleich geltenden Massstab dar.
- Die Rechts- und Staatsordnung der Schweiz und des Kantons Zürich ist von der demokratisch-liberalen Kultur geprägt.
Ethisches Handeln aus einer muslimischen Perspektive
Gemäss dem muslimischen Theologen und Juristen Khaled Abou El Fadl, ist die islamische Tradition voller «ethischer Potentiale», die in komplizierten und vielschichtigen historischen Narrativen eingebettet sind. Diese Narrative würden keinen singulären normativen Entwicklungsverlauf beinhalten, sondern eine Vielzahl von normativen Entwicklungsverläufen, die oftmals in einem Verhältnis von Konflikt und Spannung zueinanderstehen. Inmitten dieser Spannungen befinden sich fest verankerte ethische Impulse oder Tugenden, die eine unausgeschöpfte Potentialität darstellen. Sie haben einen moralischen Entwicklungsverlauf oder eine mögliche normative Kraft, jedoch nur wenn sie zurückgefordert und in kohärente epistemische Interventionen und Praktiken in der modernen Welt rekonstruiert werden. [5]
In Zeiten von Klimaerwärmung, Wirtschaftskrisen, globalen Fluchtbewegungen und Aufgehen der Armutsschere ist es an den Reichsten der Welt, zu denen auch die Bevölkerung in der Schweiz gehört, sich zu fragen, wie sie wirklich Verantwortung übernehmen und einen Beitrag leisten können – vor allem auch, wenn sie sich als gläubige Menschen bezeichnen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit.
Im Sinne der von Abou El Fadl formulierten Zurückforderung und Rekonstruktion ethischer Impulse kann eine Fülle von Texten aus der islamischen Tradition beigezogen werden, wenn man sich als gläubige*r Muslim*in mit der Konzernverantwortungs- und der Kriegsgeschäfteinitiative beschäftigt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Systematik sei in diesem kurzen Exposé als ein Gedankenanstoss das zentrale koranische Konzept des Menschen als Statthalter auf Erden aufgeführt:
Und als dein Herr zu den Engeln sagte: Ich werde auf der Erde einen Statthalter einsetzen! Sie sagten: Willst du auf ihr jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen? Er sagte: Ich weiß was ihr nicht wißt.
Qur’an 2:30 [6]
Gottes Rolle für die Menschen auf Erden kann also als die eines verantwortungsbewussten Statthalters verstanden werden, der eben kein Unheil auf ihr stiftet und Blut vergiesst, wie es die Engel in diesem Vers mutmassen. [7] Abou El Fadl nimmt die Idee der Statthalterschaft ebenfalls auf und führt diese auf die ultimative «Gott-Ähnlichkeit» der Menschen im Sinne der Schönheit ihrer Handlungen, durch welche die Menschen ihre externe Schönheit, als Träger des Göttlichen Abbilds zu einem Spiegelbild ihrer inneren Schönheit machen. [8] Die Übernahme von Verantwortung und das Verhindern von Blutvergiessen sind auch Kernanliegen der Konzernverantwortungs- und Kriegsgeschäfteinitiative. Nicht zuletzt ist der Waffenhandel global in allen Richtlinien für Islamic Finance verboten. [9]
Schlussgedanken
Für eine Abstimmungsempfehlung ist hier nicht der richtige Ort. Schlussendlich ist es auch jede*r von uns selbst überlassen wie er oder sie abstimmt und wählt. Als gläubigen Menschen, Muslim*innen, Schweizer*innen ist es jedoch an uns, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir unsere Statthalterschaft auf der Erde verstehen und ausgestalten möchten – dies wiederum ganz im Sinne der Zurückforderung und Rekonstruktion ethischer Impulse der islamischen Tradition im Kontext unserer eigenen Lebensrealität. Als Bürger*innen dieses Landes liegt es auch in unserem Interesse und in unserer Verantwortung, uns am politischen Leben zu beteiligen.
[1] https://zvisite.ch/zwischen-ausgrenzung-solidaritaet-und-safe-space/
[2] Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2006): “Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation”, In: Recht, Staat, Freiheit, S. 112.
[5] Abou El Fadl, Khaled (2019): “Islamic Ethics, Human Rights and Migration”, In: Migration and Islamic Ethics, doi: https://doi.org/10.1163/9789004417342_003
[6] Nach Rudi Paret, angepasst.
[7] Das Konzept der Statthalterschaft wurde auch produktiv unter anderem von der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) im Sinne einer Verantwortung für den Umweltschutz aufgegriffen: https://vioz.ch/wp-content/uploads/2016/06/VIOZ-Umwelt-Brosch%c3%bcre.pdf
[8] Abou El Fadl, Khaled (2014): Reasoning with God: Reclaiming Shariʻah in the modern age, S. 411-414.
[9] Vgl. z. B. https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2015/wp15120.pdf, S. 6.